Das Wallfahrtsgeschehen

Es war schon vermutet worden, daß es Ende des 14. Jh. aufgrund des Aufblühens von Wilsnack zu einer Krise des Beelitzer Standorts gekommen ist. Die beiden Brandenburger Urkunden, die echte und die gefälschte, gehen ohnehin von einem bescheidenen, auf Mariae Himmelfahrt beschränkten Betrieb aus - nur für diesen Tage werden die 40 Tage Ablaß denjenigen zugestanden, die ad stationem huius Ecciesiae kommen. Jetzt wüßte man gern, wie hier statio zu übersetzen ist: als Standort?, als Wallfahrtsort?, als Prozession?

 

Das ist auch eine Frage nach den baulichen Voraussetzungen. Wie weit war man mit dem Bau der Kapelle? Und um welchen Zustand ging es um 1392? Die Zweizeitigkeit, die bauhistorisch vermutet wurde, und die aus der Fälschung der Urkunde von angeblich 1247 gefolgerte Rückläufigkeit der Wallfahrt würden einander gut ergänzen. Die Backsteinkapelle des 14./15. Jh. wäre also das Zeichen weniger neuerlichen Wallfahrtserfolgs, als vor allem gewachsenen Wohlstands und städtischen Selbstbewußtsein. Vorausgegangen war immerhin der - angenommene - Umbau der Marienkirche zu einem gotischen Saal.

 

Es sind aber noch weitere Motive zu berücksichtigen. Die für das 14. Jh. typischen sozialen Spannungen innerhalb der, angesichts wechselnder, ferner und uninteressierter Landesherren, weithin auf sich selbst gestellten märkischen Städte dürften auch in Beelitz nach Ausdruck verlangt haben. Die Frömmigkeitspraxis war dafür ein geeignetes Feld.

 

Innerhalb dieses engeren, städtischen Rahmens ist dann vor allem für das 15. Jh. zu fragen, ob und wie weit das Wallfahrtsfieber und die wachsende Anzahl konkurrierender Gnadenorte des 15. Jh. an der Wunderblutkapelle zu Änderungen und neuen Antworten führten. Das betrifft den Weg von der selbständigen Kapelle zum Annex der Stadtkirche.

 

Die Wunderblutkapelle des 14. bis 15. Jh. stand zunächst anerkanntermaßen für sich, neben der Kirche - das spiegelt sich noch in den Ängsten der Oberen des Lorenzklosters um die Möglichkeit einer Verselbständigung und eines Übergangs der Einkünfte in andere Hände. Stellt man sich beides nebeneinander vor, die in die Höhe gestreckte Kapelle mit ihrem Spitzdach und daneben die Marienkirche in ihrer umgebauten Form, aber noch recht geringen frühgotischen Höhe, wie sie die zugemauerten Hallenfenster anzeigen, dann stand beides sich an Gewicht jetzt fast gleich zu gleich gegenüber. Ort und Eigenart der Form sprechen für eine lokale Frömmigkeitsbewegung, die nicht an kirchlich oder geschäftlich ausbeutbare Wallfahrt dachte, sondern das Wunderblut in einem Kontext lokaler Erwartungen und Vorstellungen erlebte. Der Reliquienkult ist die am wenigsten sprachlich vermittelte Frömmigkeitsform. Sie kommt mit einem Minimum an offizieller Kirche aus. Jedenfalls darf man ein Moment von Trotz, Widerständigkeit und Abwendung vom offiziellen kirchlichen Betrieb in der Stadtkirche, von Pfaffenverachtung und Verachtung des in der Pfarrherrenschaft offenbar geübten Vermietungswesens der stadtkirchlichen Pfründe annehmen. Dazu mag man alles eintragen, was man von der Krisenzeit des 14. Jh. weiß - Ketzerbewegungen, Geißler, die Pest, politische Unruhen der Mark, Handwerkerrevolten, Agrarkrise.

 

In den so umrissenen Kontext gehören die in der Lage ausgedrückte Nähe zum Totenkult ebenso wie die in Verselbständigung und Achteckform ausgedrückte Verbindung mit dem Bild des Heiligen Grabes.

 

Der entscheidende Versammlungsraum des Wallfahrtsgeschehens war also wohl der umgebende Friedhof, ein Ort unter freiem Himmel. Die Kapelle war darüber hinaus das verschlossene Behältnis, dem man sich auch individuell und aus aktuellem Anlaß nähern konnte. Eine Messe wurde ja nur zweimal im Jahre gelesen. Nur an bestimmten Feiertagen die Reliquie herausgetragen, herumgetragen oder in die Stadtkirche gebracht.

 

Eine deutliche Veränderung von Zeitumständen und Praxis zeigt sich, wenn man die Spekulation über einen ersten reinen Feldsteinbau beiseite läßt, erstmals am Ende des 15. Jh. Gemeint ist der Abbruch der Südostseite des Achtecks und ihre Ersetzung durch die heutige dünnere Backsteinwand. Offenbar geschah dies mit einem ganz bestimmten kultischen Zweck: Diese neue durchgehende Backsteinwand enthält eine Tür und ein kleines Schaufenster. Durch das Schaufenster war jederzeit ein Blick auf das Heiltum möglich - das, was Heinrich Sebald, der Beelitzer Chronist des 17. Jh., so anschaulich geschildert hat:

"In dieser Kapelle ist in der Mauer ein Loch mit einem Gitter, dadurch hat man von ferne den Leuten den Abgott gezeigt."

 

Ein zugehöriger Schritt ist wohl die erste Verbindung mit der Stadtkirche durch den Treppenturm. Beides greift funktional wie den Formen nach eng ineinander und verweist auf ein höheres Maß an Integration von Stadtkirchen- und Kapellennutzung: Jetzt gab es eine zumindest für den Pfarrer begehbare unmittelbare Verbindung zwischen Wunderblutkapelle und Chor und zu dieser Zeit bereits entstandener oder entstehender Sakristei.

 

Diese Veränderungen sind vermutlich in einer Linie zu sehen mit einer ganz anderen, aber ebenfalls auf aktuelle Frömmigkeits-bedürfnisse hinweisenden Einrichtung in Tremmen, die Außenkanzel der Westfassade.

 

Der letzte Schritt ist der unmittelbare bauliche Anschluß der Wunderblutkapelle an die Kirche. Auch das war Zeitgeist. Beidseitige Kapellenanbauten waren Abzeichen der Bürgerlichkeit der großen Stadtkirchen. Man kann annehmen, daß es in Nachahmung von Wilsnack zur Fabrizierung einer eigenen Brandlegende kam. Der vorhandene Kapellen- bzw. Sakristeianbau gehört ins späte 15. Jh.

 

Vor allem zeichnet sich in der endgültigen Aufhebung der Selbständigkeit der Gnadenkapelle eine gewandelte Wallfahrtspraxis ab, sich gut auf den Endzustand in Beelitz übertragen läßt.

 

Die Wunderblutkapelle entsprach, indem sie auf die neue Hallenkirche geöffnet wurde, nach Lage wie Funktion einem Kapellenanbau. In Beelitz war jetzt offenbar die Kirche wieder zum Hauptraum der Gnadentage geworden. Die Verehrung aus der Ferne war schon durch den geschlossenen Zentralbau und das kleine Fenster eingeübt worden. Das Wunderblut war jetzt entweder in die gleichwohl abgeschiedene Nähe der Seitenkapelle entrückt, oder es wurde bei entsprechender Gelegenheit in einer binnenräumlichen Prozession auf den Altar der Stadtkirche getragen.

 

Hier kann man nun Creusings Beschreibung des Kultus eintragen, die sicherlich nicht auf frühere Zeiten, wohl aber auf einen Spätzustand zu beziehen ist, den Creusing noch durch Befragung älterer Leute ermitteln konnte:

"Sonderlich haben sie groß Gepräng damit getrieben und groß procession damit gehalten am Tage Corporis Christi et ascensionis Mariae, da den aus vielen ändern Ohrten das Voick dazukommen, dem gefolget, dazu gelobet und geschencket. Sonsten ist es alle Monaht auf einen Donnerstag umb Mittagszeit ausgetragen worden und für dem hat man die große Klocke geleutet, darauff seind die Leute von Dorffern und aus dem Felde herzu gelauffen, das zu ehren und gemeiniglich was zum Opffer mitgebracht."

 

Das ist der Zustand, den die protestantische Beendigung des Wallfahrtswesens vorfand. 1529 wurde auch das Beelitzer Wunderblut entlassen. Es wurde nicht, wie in Wilsnack, verbrannt, vielmehr gab es offenbar nur noch das Corporale, das Leinentuch, mit ein paar Flecken. Das kleine Fenster in der Backsteinwand, durch das lange Zeit die Monstranz von außen wahrgenommen werden konnte, wurde, wie Sebald mitteilt, damals vermauert, um den Hostienspuk auch von da aus auszuschließen, und ein gleiches Schicksal ereilte damals wohl auch die Tür.

 

Das genaue Datum der Beseitigung der Hostien in Beelitz ist nicht bekannt. Creusing schreibt dazu:

"zur Zeit des ausgegangenen Evangelii, als man solch wunderbluht nicht mehr geachtet, hat endlich der erste evangelische Prediger Casparus Voldenscher diese Capel geöffnet in gegenwart des Rahts Ihren Abgot besichtiget. Da haben sie im Cristal Glas keine Ostien, sondern ein grobleinenen Tüchlein darin gewickelt befunden, in welchem vertunckelt etzliche Bluts-Tropfen darin gescheinet, das hat man den Leuten gewiesen und sie also greulich verblendet und zur Abgötterey getrieben, ist aber dieselbe materie verbrand und in´s Flut geworffen worden."

 

Friedrich Holtze vermutete 1886, Creusing habe das Datum bewußt im Unklaren gelassen, um seine eigene Beteiligung nicht ins Licht rücken zu müssen - es hätte ihn sonst vielleicht auch das böse Schicksal des Ellerfeld erreicht, der, nachdem er 1552 das Wilsnacker Wunderblut verbrannt hatte, nur knapp sein Leben retten konnte.

 

 

Quelle: Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Wunderblut von Beelitz;

           Selbstpublikation der Stadt Beelitz 2005